Mit Müh und Not klettre ich aus dem Schlund der WC-Schüssel, klammere mich am WC-Ring fest und lasse mich von dort auf den Boden gleiten. Selig tripple ich durch den Ort, verlasse ihn, verliere mich im endlosen, düsteren Korridor, ertaste die unzähligen Mäntel und Jacken, die an Hacken nebeneinander an der Wand hängen. Ich verberge mich hinter dem Kleiderwall. Durch einen Zwischenraum beobachte ich meine Mutter. Schemenhaft beugt sie sich über meine jüngste Schwester. Die Kleine klammert sich an Mutters Beinen fest.
Ich entdecke mit dem Blick meiner Augen mein Ich in meinem dritten Lebensjahr.
Wir wohnten in einem über allem erhabenen Gebäude. Auf der Fassade gen Westen stand in geschwungenen Lettern: Johannesburg. Einer der Erker gestattete den Blick auf den zugerischen See. Ein geheimnisvoller Park umspielte die Burg und in ihm wuchs alles, was wir, meine Eltern und meine sieben Geschwister zum Gedeihen brauchten - Birnen, Äpfel, Aprikosen, Beeren, Nüsse. Aus dem Bienenhaus floss der Honig. Die roten Schnecken taten sich gütlich in den paradiesischen Gemüsebeeten, bis zu dem Tage, an dem sie von kleinen Kinderhänden eingesammelt werden mussten. Die schleimigen Tierchen wurden mit der Schere entzwei geschnitten. Im Gehege vor dem Hühnerhaus gackerten die Hennen und der Hahn schrie frühmorgens. Wenn Vater sich ihrem Revier näherte, flatterten die Gefiederten verängstigt gegen den Gitterzaun, wohl wissend, dass eines von ihnen als Opfergabe gerupft, gewürzt und nackt gebraten wurde. Hase und Häsin zogen in den Ställen ihre Jungen auf. Hätten sie geahnt, dass ihre Häschen dereinst im mit Beize gefüllten tönernen Topf ertränkt würden - sie hätten sich mit aller Wahrscheinlichkeit nicht mehr gepaart.
Der mächtige Lindenbaum, unweit des aus Eisen geschmiedeten, mit einem Ziegeldach überdeckten Eingangstors, bewachte mit seinen weit ausladenden Ästen die Bewohner*innen unseres Refugiums. Mutter bereitete aus des Baumes Blüten den köstlichsten Tee.
Auf den Fenstersimsen schmiegte sich Glas an Glas, ihr Inhalt, ein Gemisch aus Öl und Johanniskraut, erwärmte sich an den Sonnenstrahlen. Der Lindenblütentrunk und das Kraut leuchteten wie Rubinen so rot, weil Mutter ihnen die Zeit gewährte, sich zu entfalten. Beide Substanzen waren für unser Wohl bestimmt, innerlich und äußerlich.
Meinen vier älteren Brüdern war ich ein Zeug zum Spielen. Der eine hielt mich an meinen Händchen und der andere an meinen Füßchen fest, mein kleiner, schmächtiger Körper war zwischen den zwei Buben gespannt. Im Schwung haben sie mich losgelassen. Ich flog durch die Lüfte. Vier brüderliche Hände fingen mich auf. Meine kindliche Unbeschwertheit zwitscherte federleicht, einem Vögelchen gleich, schwesterlich hin und her.
Ohne Aufsicht lernte ich in meinem See unter seiner Oberfläche dem Ufer entlang, einem Delphin gleich, schwimmen. Der Schatten meiner Gestalt verlässlich unter mir. Er hob mich von Zeit zu Zeit zum Luftholen an die Oberfläche.
Mutter, sie verkündete stolz bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dass sie in neun Jahren acht Kinder geboren habe, arbeitete ununterbrochen. Jäten, waschen, bügeln, nähen, putzen. Das Zubereiten der Speisen übernahm oft Vater. Fünf Stunden Schlaf genügten der arbeitsamen Frau zur Regeneration. Sie duldete keine Haushaltshilfe. Sie war Perfektionistin. Sie war Pädagogin. Sie bemalte Möbel mit blühenden Blumen, mit Feen und Fabelwesen. Sie war Poetin. Sie spielte Klavier. Ihr ethisches Streben bestand darin, ihren Nachkommen Bildung und Besitztum zu ermöglichen. Internate und Schulen übernahmen das erstere. Für letzteres führte sie Ihre erwachsenen Söhne und Töchter geschickt zum Kauf des eigenen Heims, indem sie das Startkapital lieferte. Für den Stand der Befindlichkeit war jedes einzelne für sich verantwortlich. „Tue recht und fürchte niemand“ - hat Mutter wörtlich ausgesprochen und uns mit auf den Weg gegeben.
Uns Kindern gab Mutter spärliche Umarmungen. Die Geborgenheit, die wir an ihren Brüsten während der stillen Zeit erleben durften, entschwand mit dem Versagen ihres Milchflusses. Die Nähe zur Mutter ersetzte eine weiche, warme Unterlage, auf der die Trinkflasche, mit dem Schnuller im Mündchen des Säuglings lag. Die Ernährung war gesichert.
Unsere Wohngemeinde bat die ehemalige Primarlehrerin anlässlich eines Jubiläums, das Märchen „Junker Prahlhans“ in Szene zu setzen. Mutter schrieb das Stück theatergerecht um, führte Regie und wir Kinder spielten unsere Rollen. Ich stand auf den Brettern der Freiluftbühne. Der Vorhang ging auf. Jederzeit kann ich den Ausdruck auf den Gesichtern der Dorfbewohner, die dem auf der Bühne ausgesetzten, scheuen Mädchen zugewandt waren, aus meinem inneren Fundus abrufen. Staunen hüben und drüben. Es wurden mir märchenhafte Worte eingeflüstert. Ich habe sie nachgesprochen. Als Gage erhielt die Familie von der Auftraggeberin ein aus Kirschbaumholz gefertigtes luxuriöses Ruderboot.
Der von der Kirche diktierte siebte Ruhetag ermöglichte unserer Familie die Ausflüge mit dem Geschenkten. Das Wasser war mein Element, löste ein Wohlgefühl aus, auf ihm und in ihm. Ich verkroch mich unter die Sitzbank im Bug - ein Rückzug in den Bauch meiner Mutter. Der immerwährende Ruderschlag tönte wie das Pochen ihres Herzens. Beruhigend gurgelte das fruchtige Wasser dem Rumpf des Bootes entlang. Urplötzlich verwandelte sich der ruhende See in ein vom Winde aufgewühltes tobendes Gewässer und zwang meinen Ernährer am nächstbesten Ufer Schutz zu suchen. Das Boot wurde einstweilen verankert. Ich wurde wieder geboren. Stundenlang marschierten wir heimwärts, meine Hand in der des Vaters.
Vater war Lehrer. Er war Imker. Er war Chordirigent. Er war Improvisator auf dem Klavier, er spielte Geige, er war ein Mensch in vielen Vereinen. Wenn er zuhause war, setzte er sich an seinen Schreibtisch und korrigierte Schulhefte. Morgendliche Liebkosungen holten wir uns, die Kleinste und ich die Zweitjüngste, vom Vater im ehelichen Bett. Wir streichelten seine Brusthaare, er war der Kater, wir seine Schmusekätzchen.
Abends brachte die älteste Schwester mich und die Jüngste ins schläfrige Zimmer, mit dem Versprechen, dass uns dort das Theater der tanzenden Federn erwarte. Es war immer dasselbe Zeremoniell. Wir lagen in unseren Bettchen und warteten auf das, was kommen sollte und entschwebten also dann in die Weltenbühne der Träume. Manchmal aber auch während den sommerlichen Nächten lauschten wir dem Orchester der Zikaden, die unermüdlich im nahegelegenen Ried im immer gleichen Takt ihre Flügel aneinander rieben.
Kindergartenzeit. Die Glocke mahnte zur Pünktlichkeit. In der Kinderstube hatte ich lange Weile, die ich mit Lutschen am Daumen ausfüllen wollte. Die Kindergartentante verweigerte mir diesen für mich höchsten Genuss. Meine Eltern leiteten den letzten Akt – Daumenlutschen verboten! - ein. Ihr Niedergeschriebenes auf dem Zettel, den der furchterregende Niklaus bei seinem Besuch in unserem Salon in seinen Händen hielt, legitimierte ihn, mir zu drohen, im Wiederholungsfalle würde sein Gehilfe mich in seinen Sack stecken und mich im Wald ausschütten. Ich wusste, dass dort der böse Wolf wohnt. Die Erwachsenen haben obsiegt. Ihr Verbot war mir Gebot.
Hin und wieder habe ich die Kleinkinderschule geschwänzt. Auf Umwegen schlich ich mich zum Ufer des Sees, zu meiner Bucht. Die am Ufer gewachsenen Trauerweiden berührten mit den Spitzen ihrer Zweige das Gewässer. Sie bewegten sich zum Takt der Wellen. Ihr sanftes Tun waren mir Trost.
Die ersten drei Primarschuljahre erlebte ich im Schulgebäude, in dem mein Vater Schulmeister war. Dieser Umstand verschaffte mir Privilegien. Unter demselben Dach, von Nonnen unterrichtet, war ich Gottes Kind und sollte Klosterfrau werden.
Die sich unter Haube und langem Rock Verbergenden übergaben ungehorsame Schüler meinem Vater, der auch des Amtes als Schulleiter waltete. Die Missetäter mussten an seine Zimmertüre klopfen. Es fand kein fürsorgliches Gespräch unter vier Augen statt, es gab Schläge. Letzteres löste ein schauerliches Wehklagen aus, kroch durch die Gänge des mehrstöckigen, unheimlichen Gebäudes, die breiten Treppen hinauf und hinunter.
An einem Tage wollte ich wissen, woher die Melodien kamen, die meine Eltern aus dem Klavier zauberten. Ich öffnete die Abdeckung der elfenbeinernen Tasten, stieg mithilfe des Hockers hinauf, öffnete den Deckel des Gehäuses, blickte in den Innenraum und entdeckte, dass wenn ich auf den Tasten hin und her lief, die Hammer auf die Saiten schlugen und so die mir vertrauten Töne erklangen. Sie stammten von keiner Fee, wie ich dachte. Warum ich die Filze von einem jedem Hammer riss, das wissen nur die Götter. Der Schaden war immens. Die Schläge auf mein Hinterteil sind mir als einzige in Erinnerung geblieben. Meine Brüder und die älteste der Schwestern jedoch könnten ein trauriges Lied singen. Lehrpersonen schlugen in der Schule ihre Schüler, Eltern verprügelten ihre Kinder zuhause. Die Bibel lehrte sie, dass physische Züchtigung angemessen, nützlich und notwendig sei.
So sehr ich auch zu einem Teil meine kindlichen Bedürfnisse bis zu meinem zehnten Kindesalter ausleben konnte, so sehr haben andererseits die heftigen Streitigkeiten, Szenen des Horrors zwischen Vater und Mutter, die Züchtigungen der Eltern gegenüber meinen Geschwistern, mein zartes Gemüt in Angst und Bang versetzt.
O Sonne. Du Licht, unser Leben
blauer Himmel drängt zum Vergeben
die Wolken so schwarz und schwer
sie richten Verdammnis her
Mein lieber, getreuester Wind
vertrauter mir weil ich Kind
feg bitte den Himmel frei
damit er mir warm und sonnig sei
Oft suchte ich Zuflucht bei der steinernen Statue, die auf einem Sockel stand unter dem Lindenbaum in unserem Park. Ich drückte mich an den Heiland. Ich führte Zwiegespräche mit ihm. Ich war überzeugt, dass er meinen Eltern den Streit wegnehmen und ihnen dafür Frieden schenken würde. Ich zog mich jeweils an seinem ausgestreckten Arm auf seine Gesichtshöhe hinauf. Eines Tages geschah es. Beim Hochklettern brach ich der Gestalt einen Finger aus der Hand. Ich erschrak schier zu Tode. Von nun an waren schuldbeladene Gefühle meine Begleiter. Von nun an mied ich die göttliche Gestalt. Sie bestrafte mich, vertrieb mich aus dem Garten Eden.
Ein Vöglein sang und singt
wie süss es klang und klingt
ich geb ihm Brot
denn s’ist in Not
es nickt mit seinem Köpfchen
und trinkt ein Wassertröpfchen
Dann ist’s nicht mehr gekommen
sein Lied hat’s mitgenommen
das Vöglein stirbt und starb
und fällt ins kleine Grab
ich hör’s nur noch im Traum
dort singt’s auf seinem Baum
Und es zerbrach alles, aber auch alles, als ob es Glas gewesen wäre.
Die Bombe, zur damaligen Zeit, gefüllt mit hochexplosivem moralisierendem Sprengstoff - männlicher Seitensprung – in der Folge weibliche Verzweiflung – schlug ein, traf den Kern der Familie, trennte Vater und Mutter, verletzte ihre Kinder. Ein gewaltiger Wirbelsturm bescherte das Finale. Er fuhr in den wimmernden Haufen und schleuderte die Scherben in alle Himmelsrichtungen.
Jeden Abend, Tag für Tag
ist es dieselbe Plag
mein Herz es rast und ringt und rennt
verzweifelt, es verbrennt.
Schreien muss mein verwundetes Herz
ich könnte es dreschen wie glühendes Erz
nimm dich in Acht, pass auf, pass auf
schreie, schreie, ersauf!
Mein Herz, es blutet stille
ist das mein Wille?
Ja, es will um die Eltern leiden
die sich so grausam meiden
Was plagest Du Dich auf dieser Welt?
Wirst Du dadurch erhellt?
Ich weine, hör auf mit diesen Sorgen
verschiebe sie auf Morgen
Stoß es weg, mit Gewalt von Dir
was hast Du noch zu suchen hier?
Gib es auf und geh zu Grund
Du erreichest nichts
Dein Herz, es ist zu wund
Die Trennung von Mutter und Vater und meinen Geschwistern erfolgte in meinem zehnten Lebensjahr.
Von einem Tag zum anderen war meine Mutter nicht mehr in der Johannesburg. Ich wusste nicht wohin sie gegangen war. Ich wusste nicht, warum sie fortgegangen war. Niemand sprach mit mir.
Ich schloss mich im WC-Raum ein und schrieb auf ein jedes Blatt des papierenen WC-Papiers ihren Namen – Mutti, Mutti - bis die Rolle aufgebraucht war.
Ich fand mich wieder bei der Grossmamma väterlicherseits.
Im späteren Verlaufe meines Kindseins wuchs ich mehrheitlich bei Verwandten oder gefangen hinter Klostermauern auf.
Einsam, einsam bis zum Tod
traurig, traurig, diese Not
Strafen, ist das des Menschen Recht?
Beugt man sich, ist so viel wie Knecht!
Ich schreie nach Freiheit
sehne nach seelischer Gleichheit
bin eine Blume, der man die Sonne raubt
wundert, wenn sie dann nichts mehr taugt
Und wirklich, sie beginnt zu welken
sie klagt, sie stirbt, die Menschen nichts merken
nein, auch dann, sie lassen ihr keine Ruh
stampfen auf ihrem Grabe, immerzu
Es ist es, ich höre, die Blüte weint
und jetzt ist’s die Seele, die damit gemeint
wenn doch irgendwo die Liebe wär
menschliche Liebe? Welche Mär!!
Die Dämmerung löst ab den Tag
nun wird geringer die seelische Plag
geh hinaus, schau zum Monde empor
die Sterne zusammen stehen, bilden das Tor
Schau, die Flügel erzittern, öffnen sich
es lockt, es ruft, es zerrt mich,
der See beginnt zu rauschen, Wellen schlagen
mich fröstelt, mich schaudert, soll ich’s wagen?
Lauf zu auf das Tor, in den See hinein
schau, er wird Dich tragen, nur langsam sinkst Du ein
schwarz der Himmel, glitzern der Sterne
oh, ich komme, komme so gerne!
Nun gibt es kein Zurück
abgebrochen die Brück
Sehnsucht, hilf mir, zieh mich nach oben
das Wasser freut sich, beginnt zu toben
Ich kann nicht mehr stehen, die Augen sind nass
ich strecke die Hände aus, das Sternentor wird blass
und also dann die Flügel sich schließen
die Finsternisse des Sees sich über mich ergießen
In Mutters Leib, gezeugt vom Vater, verbrachte ich unbeschwerte, gleichmäßig mütterlich warme Augenblicke. Das unbewusste vorgeburtliche Gefühl der Geborgenheit hat mich im Verlaufe meines Lebens getragen. Wenn ich sage, die Verletzungen der geborenen kindlichen Seele grenzten teilweise ins Unerträgliche, so muss ich dem gewisse Umstände, wie
- unsere Eltern wollten das Beste für ihre Kinder -
und das Wissen um die Existenz der Geschwister, das Zuversicht vermittelte, entgegenhalten. Alles entsprang der Familie: das Leiden und die Freuden.
Ich schlüpfte aus den Kinderschuhen und verstand, dass für einmal geschlossene Ehen nicht ewig halten müssen. Wenn Kinder aus der einst geschlossenen Partnerschaft geboren wurden, darf kein Rosenkrieg veranstaltet werden. Ein Rosenkrieg zwischen den sich Trennenden muss gesetzlich verboten werden! Das Kindeswohl muss an oberster Stelle stehen!
Wenn ich heute an Vater und Mutter denke, kommt weher Mut über mich. Wir sind einander im späteren Leben vertrauensvoll begegnet. Ich denke in Liebe an sie.
Die Himmel hoch jauchzenden und zu Tode betrübten Geschichten, die sich bis zu meinem zehnten Lebensjahr zwischen den Eltern und meinen Schwestern, Brüdern und mir ereigneten, schlummern seit geraumer Zeit mit Mütterchen und Väterchen in ihren Grabes Stätten.
Die von Menschen gemachte Zeitrechnung nicht beachtend, kann ich sagen, dass in Millionen von Jahren - vielleicht auch weniger, vielleicht auch mehr - das Leben uns acht geschwisterliche Splitter zu Diamanten schliff. Die kostbaren Steine glitzern und funkeln in lieblichen Farben. Lupenrein sind sie nicht. Manchmal trüben die Kratzer der Vergangenheit, sich manifestierend in Verletzlichkeit, Arroganz und Unversöhnlichkeit, den Lichterglanz.
Noch immer erlebe ich geschwisterliche Begegnungen. Sie geschehen im Augenblick. Manchmal sind sie verbindlich und wir sind uns nah. Manchmal sind sie trennend und wir sind uns fremd. Aber immer ist es das rote seidene unsichtbare Band, das unsere Seelen verbindet.
Poesie in allen Dingen begleitet mich, seit ich Kind bin, bis in den heutigen Tag. Meine Augenblicke sind Spiegel der Ereignisse. Sie verbinden mich mit der Menschheit. Sie sind Begegnung mit mir selbst und somit die Begegnung mit allen und allem. Der Maler*in stellt sich mit Pinselstrichen auf der Leinwand dar und ich, als Betrachterin des Werkes, spüre darin mein Wesen und es ist mir möglich, die Botschaft des Künstlers*in zu empfangen. Meine Augenblicke, die ich mit Worten sichtbar mache, können sich mit den Gedanken des Lesers*in vereinen und eigenes Verborgenes ans Tageslicht bringen. Wenn ich den Klängen der Musik lausche, die ein Virtuose*in für mich in den Raum spielt, vernehme ich in meinem tiefsten Grunde meine eigene Kompositionen.
Jetzt - in diesem Augenblick - streiche ich mit der Hand über das Grün eines Berges. Ich gleite mit meiner Hand über die blühende Helle der Landschaft. Ich berühre mit meiner Hand die goldenen Strahlen der Sonne. Ich begreife mit meiner Hand das Blau des Himmels. Ich tauche mit meiner Hand ein in die Quelle. Die Urquelle ist zum Strom geworden, alles in sich bergend. Und über dem Fliessenden tanzen die Sterne.
Ich finde mich im Weltall der Meere, im Schoße meiner eigenen, liebevollen Familie und weile auf Mutter Erden. Ich bin ein androgynes Wesen und habe die Gewissheit, dass ich mit der Materie, dem Universellen verbunden bin.
Die Niederschrift der kindlichen Trauer und Verzweiflung in der Form des sich Reimenden, Rhythmischen, hat mich in die Ruhe gebracht.
Ich habe mich hin und her gewiegt.
Es lohnte sich zu schreiben.
Es lohnt sich, meine Augenblicke in Worten sichtbar zu machen - manchmal sind sie voll der Tränen, manchmal lächeln sie.
Tieftraurig bin ich am Sterbebett meiner geliebten ältesten Schwester gesessen. Du hast mir Zuversicht geschenkt, einen Trauerschleier über mein Haupt gelegt und mich gleichsam in einen heilenden Lichterblitz gehüllt.
Sieben Geschwister zählen wir im Augenblick.
Tieftraurig bin ich über die Botschaft, dass mein ältester geliebter Bruder selbstbestimmt aus seinem Leben fortgegangen ist. Fortgegangen mit den Worten - Adieu Rigi, adieu meine Hirsche. Ich bin neugierig, was danach kommt -.
Die Erinnerung an Dich - unsere letzte schwesterlich brüderliche Umarmung - muss mir genügen.
Sechs Geschwister zählen wir im Augenblick.
Mein viertältester, mein mir so vertrauter geliebter Bruder, Du spielt jetzt in meinen Träumen auf der Klaviatur der Sterne am Himmelszelt im Schein des Mondes.
Es wärmt und tröstet
Fünf Geschwister zählen wir im Augenblick.
Mein liebster Bruder Rolf. Dein weiser, geheimnisvoller, beschützender Uhu hat uns Deine Poesie zugetragen, dass Du Dich unter seinen Flügeln verborgen hast und mit ihm über das weite Meer zum sanften Sonnenuntergang geflogen bist für einen Neuanfang.
Du bist in mein Herz zurückgekehrt
Vier Geschwister zählen wir im Augenblick.